Online-Attest im Arbeitsrecht: Wann die Online-Krankschreibung zur Kündigung führen kann
Digitale Angebote versprechen die Krankschreibung „in 5 Minuten“ – oft ohne Praxisbesuch, manchmal sogar ohne jedes Arztgespräch. Was bequem klingt, kann arbeitsrechtlich brandgefährlich sein: Aktuell hat das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG Hamm, Urt. v. 05.09.2025 – 14 SLa 145/25) entschieden, dass eine so erlangte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann.

Im Folgenden zeigen wir, was das Urteil konkret bedeutet, welche Linie die Rechtsprechung zu Online-Attesten verfolgt und wie sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber praktisch verhalten sollten – mit Bezug zu Kündigung, Kündigungsschutzklage und typischen Gestaltungen wie Abmahnung und Aufhebungsvertrag.
1. Der aktuelle Fall: Fristlose Kündigung nach Online-AU ohne Arztkontakt
Im vom LAG Hamm entschiedenen Fall war der Kläger als IT-Consultant beschäftigt. Er meldete sich für mehrere Tage arbeitsunfähig krank und legte seinem Arbeitgeber eine online erworbene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung before.
Das Besondere:
Die AU wurde über ein Internetportal gegen Gebühr bezogen.
Grundlage war ein Online-Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten.
Kein persönlicher, telefonischer oder Video-Kontakt zu einer Ärztin / einem Arzt.
Der Arbeitgeber zweifelte die Bescheinigung an und kündigte fristlos, hilfsweise ordentlich. Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage.
1.1. Kernaussagen des LAG Hamm
Das LAG Hamm bestätigte die verhaltensbedingte fristlose Kündigung:
One AU „ohne Gespräch“ entspricht nicht den Anforderungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (§ 4 Abs. 5 AU-RL).
Der Arbeitnehmer hat durch Vorlage einer Bescheinigung, die einen Arztkontakt suggeriert, obwohl keiner stattfand,
den Arbeitgeber über die Art der Krankschreibung getäuscht,
und sich damit Entgeltfortzahlung „erschlichen“.
Dies ist eine schwere Pflichtverletzung (§ 241 Abs. 2 BGB) und ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB.
One Abmahnung war entbehrlich, weil das Vertrauen bereits durch diesen einmaligen Vorfall nachhaltig zerstört war.
Damit stellt das Gericht klar: Wer bewusst ein Online-Attest ohne Arztkontakt einsetzt, riskiert sofort den Arbeitsplatz.
2. Die Rechtsprechungslinie: Von Entgeltfortzahlung bis Kündigung
Das Urteil des LAG Hamm steht nicht im luftleeren Raum. Bereits zuvor hatten Gerichte Online-AUs ohne Arztkontakt kritisch bewertet.
2.1. ArbG Berlin: Kein Lohn bei reiner Online-Krankschreibung
The Arbeitsgericht Berlin (Urt. v. 01.04.2021 – 42 Ca 16289/20) entschied, dass eine über den Anbieter „au-schein.de“ ausgestellte AU ohne vorherige ärztliche Untersuchung und ohne Telefon- oder Videokontakt keinen ausreichenden Beweis für eine Arbeitsunfähigkeit liefert.
Konsequenz:
Der Arbeitgeber musste keine Entgeltfortzahlung leisten, weil die Bescheinigungen keinen Beweiswert hatten.
Damit war zwar (noch) keine Kündigung, aber ein klarer Warnschuss für Online-Atteste verbunden: Ohne echten Arztkontakt kann der Anspruch auf Lohnfortzahlung scheitern.
2.2. BAG-Grundsatz: Beweiswert der AU nur bei Untersuchung
Bereits das Bundesarbeitsgericht hatte früher entschieden, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihren Beweiswert verliert, wenn ihr keine Untersuchung vorausging und auch keine tragfähige Fernbehandlung stattfindet.
Die Linie ist klar:
Ja zur Krankschreibung nach ärztlicher Untersuchung – auch per Telefon oder Video, wenn die Richtlinie das zulässt.
No zu „Attesten“ allein auf Basis eines Fragebogens ohne echten Arztkontakt.
3. Was ist arbeitsrechtlich erlaubt? Telemedizin, eAU & Online-Portale
3.1. Tele-AU mit Arztkontakt ist möglich
The Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erlaubt eine Feststellung der AU auch per Telefon oder Videosprechstunde, wenn bestimmte Voraussetzungen (z. B. bekannte Patient:innen, Art der Erkrankung, Dauer) erfüllt sind.

Das bedeutet:
Seriöse telemedizinische Angebote mit tatsächlicher Arzt-Patienten-Kommunikation können eine vollwertige eAU erzeugen, die vom Arbeitgeber grundsätzlich zu akzeptieren ist.
3.2. Reine Fragebogen-Atteste sind rechtlich hochriskant
Online-Anbieter werben teils mit „5-Minuten-AU ohne Gespräch“. Hier füllt der Nutzer nur einen Fragenkatalog aus und erhält anschließend ein PDF-Attest.
Nach der aktuellen Rechtsprechung gilt:
Solche „Atteste“ entsprechen nicht den medizinischen Standards der AU-Richtlinie.
Yours Beweiswert ist erschüttert.
Sie können dazu führen,
dass Lohnfortzahlung verweigert wird (ArbG Berlin) und
dass eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung wirksam ist (LAG Hamm).
Arbeitnehmer:innen sollten solche Angebote not nutzen – jedenfalls nicht zur Belastung ihres Arbeitsverhältnisses.
4. Kündigungsrisiken für Arbeitnehmer: Täuschung, Abmahnung, fristlose Kündigung
4.1. Wann droht eine Abmahnung, wann sofortige Kündigung?
Grundsätzlich gilt: Bei vielen Pflichtverletzungen ist vor einer verhaltensbedingten Kündigung zunächst eine Warning letter erforderlich. Einen Überblick zu Funktion und Anforderungen der Abmahnung gibt unser Beitrag „The labour law warning“.
Im Fall des Online-Attests sieht das LAG Hamm die Grenze jedoch überschritten:
Bewusste Täuschung über den Arztkontakt,
Erschleichung von Entgeltfortzahlung,
schwerer Verstoß gegen die arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht.
Hier reicht eine Abmahnung nicht mehr aus – der Vertrauensbruch ist so gravierend, dass eine fristlose Kündigung ohne Vorwarnung zulässig sein kann.
4.2. Verhaltensbedingte Kündigung
Die Entscheidung ordnet das LAG Hamm ausdrücklich als verhaltensbedingte Kündigung in.
Vertieft zu verhaltensbedingten Kündigungen, typischen Pflichtverletzungen und Verteidigungsstrategien finden Sie im Kanzlei-Blog den Beitrag
„Verhaltensbedingte Kündigung: Wann ist sie zulässig?“.
5. Handlungsempfehlungen für Arbeitnehmer
1. Finger weg von Fragebogen-Attesten ohne Arztkontakt
Auch wenn Anbieter mit „100 % gültig“ werben – entscheidend ist, ob die AU die rechtlichen Anforderungen erfüllt. Bei reinen Fragebogen-Modellen ist das regelmäßig nicht der Fall.
2. Bei Krankheit: echte ärztliche Untersuchung (Praxis, Telefon, Video)
Nutzen Sie im Zweifel die regulären Wege über Hausarzt, Facharzt oder seriöse Telemedizin mit tatsächlichem Arztgespräch.
3. Abmahnung oder Kündigung wegen Online-Attest erhalten?
Unbedingt Fristen beachten: Gegen eine Kündigung muss in der Regel innerhalb von 3 Wochen Kündigungsschutzklage erhoben werden.
Einen strukturierten Überblick zu Ablauf, Fristen und Chancen bietet unser Beitrag
„Der Kündigungsschutzprozess vor dem Arbeitsgericht“.Nehmen Sie keine vorschnellen Aufhebungsverträge an, ohne sich beraten zu lassen – dazu finden Sie praxisnahe Hinweise im Artikel
„Fragen und Antworten zum Aufhebungsvertrag“.
6. Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
1. Online-Atteste prüfen und dokumentieren
Stimmt die angegebene Praxis / Ärztin / Arzt?
Handelt es sich um eine eAU mit nachvollziehbarem Arztkontakt oder um ein „5-Minuten-Attest ohne Gespräch“?
Gibt es Unstimmigkeiten bei Dauer, Zeitpunkt oder Häufung der Bescheinigungen?
2. Reaktion bei Verdacht auf Täuschung
Je nach Konstellation kommen in Betracht:
Gespräch mit der Mitarbeiterin / dem Mitarbeiter,
Warning letter bei erstmaliger, weniger gravierender Pflichtverletzung,
ordentliche oder außerordentliche Kündigung, wenn eine bewusste Täuschung und Erschleichung von Entgeltfortzahlung naheliegt (wie im LAG-Hamm-Fall).
Auch für Arbeitgeber gilt: Form- und Begründungsfehler können die Kündigung unwirksam machen. Einen praxisnahen Überblick zu formellen Anforderungen finden Sie hier:
„Formelle Anforderungen an eine arbeitsrechtliche Kündigung“.
3. Strategische Alternativen prüfen
Statt vorschnell zu kündigen, können – je nach Lage – auch folgende Optionen sinnvoll sein:
Versetzung,
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) bei längerer Krankheit,
einvernehmliche Beendigung per Aufhebungsvertrag mit klar geregelter Abwicklung (Urlaub, Überstunden, Zeugnis, Abfindung).
→ Vertiefend hierzu erneut der Beitrag „Questions and answers about the cancellation agreement“ unserer Kanzlei.
7. Fazit: Online-Attest ist nicht gleich Online-Attest
Die aktuelle Entscheidung des LAG Hamm verschärft die arbeitsrechtliche Bewertung von Online-Krankmeldungen:
Telemedizin mit echtem Arztkontakt (Telefon/Video) bleibt zulässig – wenn die Vorgaben der AU-Richtlinie eingehalten werden.
Reine Fragebogen-Atteste ohne Arztgespräch sind dagegen rechtlich höchst problematisch:
Sie können den Anspruch auf Entgeltfortzahlung scheitern lassen (ArbG Berlin).
Sie können eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung rechtfertigen (LAG Hamm).
Für Arbeitnehmer heißt das:
Nutzen Sie keine Schnell-Atteste ohne Arztkontakt – Ihr Arbeitsplatz steht auf dem Spiel.
Für Arbeitgeber heißt das:
Prüfen Sie Online-Krankschreibungen sorgfältig, reagieren Sie aber strukturiert und rechtssicher, um keine unnötigen Risiken im Kündigungsschutzprozess einzugehen.
The Kanzlei Steveker & Odebrecht – mit Fachanwalt für Arbeitsrecht an den Standorten Sulingen, Bremen und Osnabrück – unterstützt sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber bei:
Kündigung und Kündigungsschutzklage,
Abmahnung, Aufhebungsvertrag und Vergleich,
Fragen rund um Arbeitsunfähigkeit, Entgeltfortzahlung und Online-Atteste.
Wenn Sie arbeitsrechtliche Unterstützung bei einer Kündigung oder weitere Informationen benötigen, stehen wir Ihnen gerne an unseren Standorten in Sulingen, Bremen, Osnabrück oder online available.

FAQ
1. Ist eine Krankschreibung ohne Arztkontakt gültig?
Nein. Online-Atteste, die ausschließlich auf einem Fragebogen basieren und ohne Arztkontakt ausgestellt werden, entsprechen nicht der AU-Richtlinie. Ihr Beweiswert ist erschüttert und sie können zu Lohnverlust oder Kündigung führen.
2. Darf eine Online-Krankschreibung zur Kündigung führen?
Ja. Nach der aktuellen Entscheidung des LAG Hamm kann ein Online-Attest ohne Arztkontakt eine fristlose verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn der Arbeitnehmer bewusst ein unzulässiges Attest einreicht.
3. Sind Video- oder Telefon-Krankschreibungen zulässig?
Ja, wenn die Vorgaben der AU-Richtlinie eingehalten werden. Telemedizinische AU-Feststellung ist erlaubt, sofern ein echter ärztlicher Kontakt stattfindet.
4. Kann mein Arbeitgeber die Lohnfortzahlung bei Online-AU verweigern?
Ja. Fehlt ein ärztlicher Kontakt, verliert die Bescheinigung ihren Beweiswert. Arbeitgeber müssen dann keine Entgeltfortzahlung leisten – das bestätigte u. a. das ArbG Berlin.
5. Brauche ich vor einer Kündigung wegen Online-Attest eine Abmahnung?
Nicht zwingend. Bei schwerwiegender Täuschung, etwa einem Attest ohne Arztkontakt, kann eine Abmahnung entbehrlich sein, weil das Vertrauensverhältnis irreparabel zerstört ist.
6. Wie sollte ich als Arbeitgeber auf eine fragwürdige Online-AU reagieren?
Dokumentieren, nachfragen, Beweiswert prüfen und rechtlich beraten lassen. In manchen Fällen kommt eine Abmahnung in Betracht, in schweren Fällen auch eine fristlose Kündigung.